Das Osterei

Autor: Über mich
Genre: Surrealer Horror
Wortanzahl: ca. 1000 Wörter
Erstveröffentlichung: April 2025


Er hatte eigentlich nur Brot kaufen wollen. Doch als er den klapprigen Klapptisch an der Straßenecke sah, stand er plötzlich davor, ohne recht zu wissen, warum.
„Nur heute! Sechs Stück, bunt und frisch!“, rief der Verkäufer mit einem seltsamen Grinsen, das irgendwie… zu breit war.
Die Eier lagen ordentlich in einer grauen Pappschachtel, jedes in einer anderen Farbe: Rot, Grün, Blau, Lila, Gelb – und eines war glänzend Schwarz. Es schimmerte leicht, als atme es.
„Zwei Euro fünfzig“, sagte der Verkäufer. Der Mann – er hieß Thomas – zuckte mit den Schultern und bezahlte.
Es war Gründonnerstag. Draußen dämmerte es bereits.
Zu Hause schaltete er den Fernseher ein. Irgendein Osterfilm lief, etwas mit sprechenden Tieren und einer Moral über Familie oder Glauben oder Schokolade. Er hörte nicht wirklich hin.
Er schnitt dicke Scheiben vom Brot, strich Butter darauf, pellte das erste Ei vorsichtig, streute ein wenig Salz darüber – und biss hinein.
Warm. Mild. Perfekt gekocht.
Er aß drei. Auch das schwarze.
Ein leises Grummeln begann in seinem Bauch. Anfangs dachte er, es sei nur der Magen, der gegen die ungewohnte Kombination von Eiern und Butterbrot rebellierte. Doch es wurde mehr.
Zuerst das Jucken.
Dann das Fell.
Es begann an den Unterarmen, ein weiches, graubraunes Flaumhaar, das sich rasch verdichtete. Thomas wankte ins Bad, stützte sich am Waschbecken ab, sah in den Spiegel – und keuchte.
Seine Nase streckte sich, wurde stumpfer, runder. Die Haut war weich, pelzig. Die Zähne… zwei davon schoben sich hervor, länger, dicker, gelber.
Er griff nach dem Telefon. Doch seine Finger waren nun… keine Finger mehr. Krallen. Zitternd ließ er das Gerät fallen.
Dann kam der Schwanz.
Ein rundlicher Fortsatz, knubbelig und voller Fell, wuchs aus seinem unteren Rücken. Er fiel auf alle Viere, rutschte, stolperte, stieß den Couchtisch um. In seiner Kehle ein Laut, der nicht zu ihm gehörte. Hoch, schrill, wie das Kreischen eines Kaninchens in Panik.
Er versuchte, sich aufzurichten. Vergeblich.
Am nächsten Morgen – Karfreitag – stand Daniel mit einem Osterkörbchen vor der Tür. Sie hatten sich lange nicht gesehen, aber er hatte Thomas versprochen, ihm bunte Eier vorbeizubringen. Selbstgefärbt, wie früher bei Oma.
Er klingelte. Keine Antwort.
Er klopfte. „Thomas? Alles okay?“
Er lauschte. Nichts.
Zögernd tastete Daniel unter die Fußmatte. Der Ersatzschlüssel – immer noch da. Er sah sich kurz um, dann schloss er auf.
Was er fand, ließ ihn erstarren.
Der Fernseher lief weiter. Ein animierter Hase hüpfte über bunte Wiesen und erzählte einem Kind von der Bedeutung des Osterfests. Auf dem Boden: eine umgestoßene Butterdose. Ein zerrissenes Hemd. Kratzspuren.
Und auf dem Sofa: ein Hase.
Groß. Ruhig. Mit klugen, traurigen Augen.
Daniel wich zurück. „Thomas?“, flüsterte er.
Der Hase blinzelte. Legte den Kopf schief. Sagte nichts.
Unsicher ging Daniel in die Küche. Er stellte sein mitgebrachtes Körbchen auf die Arbeitsplatte – sechs selbstgefärbte Eier. Auf dem Tisch stand eine offene Pappschachtel. Drei Eier fehlten. Drei waren noch da. Unberührt.
Daniel zögerte. Dann nahm die alte Schachtel an sich. Vielleicht als Gag. Vielleicht als Souvenir. Vielleicht verstand er es einfach noch nicht.
Er stellte seine eigenen Eier in den Kühlschrank.
Und nahm die drei übrigen mit nach Hause.

Ostersonntag.

Daniel konnte sich nicht erinnern, warum er plötzlich so einen Heißhunger auf Eier hatte.
Er aß eins.
Dann zwei.
Dann drei.
Sein Bauch grummelte.
Er lachte noch, streichelte sich über den Magen und setzte sich aufs Sofa.
Ein leiser Juckreiz an den Armen.
Dann das erste Haar.


Ein typischer Chris-Angrow-Text: realitätsnah, unheimlich, absurd – und mit einem Augenzwinkern.
*„Das Osterei“* ist eine moderne Ostersatire im Gewand eines surrealen Body-Horrors.

→ Weitere Geschichten findest du unter Kurzgeschichten.

→ Mehr über das wiederkehrende Schattenzeichen erfährst du hier: schattenzeichen



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